Zu Besuch bei der Verwandten. Hans Josephsohn im Tessin
20. Juli 2021Museumsgebäude, die eine Kollaboration zwischen Künstler und Architekt darstellen, sind sehr rar. Die Idee für La Congiunta wurde geboren durch das enge Verhältnis zwischen dem Bildhauer Hans Josephsohn und dem Architekten Peter Märkli. Der Erzählung nach sprachen sie seit Langem schon über ein Gebäude für die Werke Josephsohns und fuhren mit dem Zug durchs Tessin, als sie per Zufall in Giornico ausstiegen und beschlossen, dies sei der geeignete Ort. Ein Ort, direkt südlich des Gotthards an der früheren Bahnstrecke zum Tunnel und heute etwas abseits der Autobahn gelegen. Ein Ort, der am ehesten durch eine sehr seltene Trivultus-Darstellung in der romanischen Kirche San Nicolao heraussticht aber jenseits dessen nicht zwingend zum Anhalten einlädt. Genau hier wurde also 1993 das Haus für Reliefs und Halbfiguren von Hans Josephsohn eröffnet.
Als Zweck der Stiftung La Congiunta, wird lakonisch angegeben: “Ein Grundstück kaufen – ein Haus errichten – Plastiken hineinstellen – am Tag die Tür offen lassen, damit wer will eintreten und schauen kann. Das Haus zeigt Reliefs und Halbfiguren von Hans Josephsohn (1920 – 2012), die zwischen 1950 und 2005 entstanden.”
Und so ist das Museum tagsüber frei zugänglich – man holt den Schlüssel in der Osteria des Dorfes ab, spaziert zum Gebäude auf einer Wiese außerhalb des Dorfes, und voilà, man tritt ein in dieses spezielle Zusammenwirken von Skulptur und Architektur.
In La Congiunta werden 33 Werke, ausnahmslos Reliefs und Halbfiguren, von Josephsohn gezeigt, aufgeteilt in drei längliche Räume und zusätzlichen vier Seitenkammern. Sein Werk ist vor allem geprägt von seiner Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur, die innerhalb seines Schaffens zunächst reduziert dargestellt wird und dann mit der Zeit zunehmend an ausgeprägtem Volumen gewinnt. Josephsohn arbeitete ausschließlich mit Modellen, die aus seiner Famile oder näherem Bekanntenkreis kamen, Menschen also, mit denen er in engem Kontakt stand. Seine Skulpturen wirken rau, schwer und kräftig und dennoch zeichnet sich in ihnen eine ursprüngliche oder gar existenzielle Note ab.[1]
Geht man durch die drei schmalen und langgezogenen Räume der La Congiunta, so betrachtet man ein Stück weit auch den Verlauf von Josephsohns Schaffen. Reliefs aus dem Frühwerk, in denen noch geometrische Formen einen Ausgangspunkt bilden und die hier um das Thema der Bedrohung kreisen, führen weiter zu einer extremeren Form ein Relief zu denken und zu kreieren, in der die bildnerischen Elemente weit in den Raum ragen und an Volumen gewinnen. Hier stehen Frauen als zentrale Figuren im Mittelpunkt, die männlichen Figuren bleiben am Rand oder sind die Betrachtenden. Die weibliche Figur ist auch zentral für die Halbfiguren, in denen die menschlichen Züge sich nur in Ansätzen aus dem Material herauszuschälen scheinen. Die Ursprünglichkeit und zugleich die Vorsichtigkeit, mit denen sich die menschlichen Züge zeigen oder erahnen lassen, sind erstaunlich. Die enge Verbundenheit von Material und Figur ist offenbar.
Bemerkenswert ist auch, wie sich der Eindruck des Rohen und eben Ursprünglichen in den Räumlichkeiten wiederfindet, die den Hintergrund der Werke bilden. Die Wände sind aus rohem Beton gegossen und spiegeln ihrerseits das Unbearbeitete wieder. Zugleich richtet sich die Architektur ganz und gar auf die Werke durch die ungewöhnliche Proportionen der Räume aus. Als Detail sei genannt, dass das Gebäude keine Elektrizität und keine Fenster hat, sodass auschließlich natürliches Licht durch Lichtgaden in die Räume geleitet wird.
Das Gebäude selber, das durch vier kleinere Seitenkammern und schlicht durch die längliche Form fast kirchenhaft wirkt, jedoch ohne jegliche sakrale Anmutung auskommt, wirkt selber wie eine Skulptur mitten in der Landschaft. Vor allem beim Spaziergang auf das Gebäude zu, kommen die Nuancen in der Form durch die unterschiedlichen Deckenhöhen und unterschiedlichen Wandbreiten zu Tage.
Wenn die Werke Josephsohns die menschliche Figur im Ursprünglichen, Eigentlichen suchen und verhandeln, so sehen wir sie hier umgeben von einem Gebäude, dessen subtile Einfachheit ebenso ursprünglich wirkt, allein gezeichnet von dem Einfluss der Witterung.
Und so steht dieses großzügige Museum fernab von Gedanken der Rentabilität schlicht auf einer Blumenwiese. Das Dorf in der Nähe, das Grotto auf dem Weg, und die Berge im Hintergrund. Wir sind eingeladen, diesen kleinen Ausflug und Spaziergang als sehr vertraut zu geniessen – es ist ein Besuch bei der Congiunta, der Verwandten.
Fondazione LA CONGIUNTA
Schlüssel abholen in der:
Osteria Giornico
Via Stazione Vecchia 2
6745 Giornico
+41 (0)91 864 22 50
[1] Es sei an dieser Stelle kurz angemerkt, dass die Skulpturen entgegen ihrer Wirkung nicht aus Bronze gegossen sind, sondern aus Messing, einem sehr viel leichteren Material.