Anselm Kiefer in Italien

17. Juli 2017
Gabi Scardi und Julia Linsen

Um mehr über Anselm Kiefers Beziehung zu Italien in Erfahrung zu bringen, haben wir Kunsthistorikerin Gabi Scardi zu dem Thema befragt.

 

Anselm Kiefer ist einer der meist publizierten und profilierten Künstler unserer Zeit. Wie bekannt ist er in Italien?

GS: Er ist wohlbekannt und das aus vielerlei Gründen. Sein Werk ist ausdrucksstark, symbolträchtig und beeindruckend und wurde mehrfach in Italien gezeigt. Der spektakuläre Pirelli HangarBicocca Mailand beherbergt The Seven Heavenly Palaces 2004-2015, eine großformatige ortsbezogene Arbeit. Sie wurde für die Eröffnung des Raumes in Auftrag gegeben und sorgte für reges Medieninteresse in Italien.

Zudem wird Kiefer in Italien durch die sehr engagierte und namhafte Galerie Lia Rumma vertreten, was sicherlich zu seiner steigenden Bekanntheit in Italien beigetragen hat.

Kiefer beschränkt sich nicht nur auf die Kunstwelt, was bedeutet, dass er ein breiteres Publikum erreicht – also auch Menschen, die sich eigentlich nicht mit zeitgenössischer Kunst befassen. Zum Beispiel entwarf er im Jahr 2003 Kulissen und Kostüme für die Inszenierung der Oper Elektra von Richard Strauss im Teatro di San Carlo in Neapel. Für die Neuaufführung in diesem Jahr erschuf Kiefer ein neues Bühnenbild.

Aber auch wie er sich in der Öffentlichkeit gibt, seine Ausführungen in Interviews und seine persönlichen Ansichten tragen zu seiner Beliebtheit bei. Anselm Kiefer ist ein Künstler, welcher der Geschichte eng verbunden ist. Seine Arbeiten verweisen auf Geschichte im Allgemeinen – die universelle Geschichte, nicht nur die Europas. In weiterem Sinne verweisen seine Arbeiten auch auf Rituale, Mythen und Religionsgeschichte. Kiefer, als Mensch dem Universum zugewandt, ist faszinierend – und das macht ihn interessant.

 

Elisabeth von Österreich (1991) ist eine monumentale Arbeit. Sie wurde auf der ersten Ausstellung des Künstlers in der Galleria Lia Rumma im Jahr 1992 präsentiert. Es heißt, dass seine Verbindung zum italienischen Publikum dann und dort begann. Wie ist Kiefers Popularität seitdem gewachsen?

GS: Lia Rumma hat ihren Sitz im Zentrum von Mailand und in Neapel – sie ist eine der wichtigsten Galeristen in Italien. Sie ist landesweit bekannt und sehr aktiv.

Für mich persönlich gibt es noch ein anderes Ereignis, dass Kiefer mit den Herzen der Italiener verbindet, und zwar, seine Teilnahme an der Sammlung Terrae Motus im Jahr 1982. Diese Sammlung wurde dank der Initiative und Voraussicht des in Neapel ansässigen Galeristen Lucio Amelio gegründet. Amelio war eine außergewöhnliche Persönlichkeit und stand mit vielen der wichtigen internationalen Künstler der Zeit in engem Kontakt.

In den schwierigen Tagen, die auf das Erdbeben folgten, das 1980 die Regionen Kampanien und Basilikata verwüstete, lud Amelio einige der größten zeitgenössischen Künstler dazu ein, mit der Schaffung eines Kunstwerkes auf die Katastrophe zu reagieren. Anselm Kiefer war einer dieser Künstler. Sein Beitrag ist eine mystische und spirituelle Arbeit in Öl und Terrakotta auf Leinwand mit dem Titel Et la terre tremble encore, d’avoir vu la fuite des géants. Deshalb begann der Name Kiefer bereits 1982, also Jahre vor Elisabeth von Österreich, an Bedeutung zu gewinnen.

Generell ist in Italien das Kulturerbe dominierend. Nur wenige Künstler haben Kiefers Fähigkeit, an dieses Kulturerbe anzuknüpfen. Geschichte ist die Grundlage seiner Arbeit – seine Gemälde, Skulpturen und Installationen sind eng mit klassischer Kultur verbunden und werden wohl auch deshalb in Italien geschätzt. Zum Beispiel seine weibliche Mythologie und seine weißen Skulpturen, die sich auf Römische Geschichte beziehen aber auch die Materialien, die er benutzt sind verkettet mit Geschichte und Erinnerung.

 

Kiefers Arbeiten sind sehr gefragt. Seine Dauerausstellung im Mailänder Pirelli HangarBicocca bildet eine eigene Raumwelt innerhalb der weitläufigen Halle. Es ist wie ein Rundgang durch Kiefers Psyche, vorbei an sieben zerbrechlich wirkenden Betontürmen und fünf großformatigen Gemälden. Die Arbeiten wurden zwischen 2004 und 20015 erschaffen, das Ausstellungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt und wird 2018 enden. Was an seinem Werk im Allgemeinen und an der Installation im HangarBicocca im Besonderen, ist es, das die Italiener fesselt?

GS: Diese Arbeiten sind atemberaubend aber auch allgemeingültig für die Menschheit, mit ihren Ambitionen, ihrer Zerbrechlichkeit und ihrem Versagen. Das sind universelle Themen, nicht nur italienische. Sie beziehen sich auf großartige architektonische Konstruktionen der Vergangenheit und sind eine Metapher für die Versuche des Menschen, Göttlichkeit anzustreben. Die Gegenwart von Büchern und die Sternbilder, dargestellt durch astronomische Zahlen, sind symbolische Elemente.

Neben den sieben Türmen werden auch fünf Gemälde gezeigt. Diese sind im selben Raum wie die The Seven Heavenly Palaces untergebracht und geben Kiefers Meisterwerk einen tieferen Sinn. In diesen Bildern verweist Kiefer auf einige der Themen, die bereits in den Seven Heavenly Palaces aufgegriffen werden. Sie verdeutlichen auch einige der Gesichtspunkte, die den Schlüssel zu Kiefers poetischen Visionen bilden, etwa die Beziehung zwischen Mensch und Natur oder Anspielungen auf die Geschichte der Ideen und die der westlichen Philosophie.

Angeregt durch sein Interesse an Mythologie und Geschichte haben Kiefers Arbeiten immer wieder Bücher zum Thema, die unser Wissen und unsere Zivilisation repräsentieren. Oft fügt er in krakeliger Schrift Text in seine Gemälde ein – unter anderem Auszüge aus Gedichten, Romanen und nationalistischen Slogans sowie die Namen bedeutender Persönlichkeiten. Die Tatsache, dass Kiefer architektonische Formensprache, astronomische Zahlen und Poesie verarbeitet findet nicht nur in Italien großen Zuspruch.

 

Kiefer sagt, dass man Schönheit in einem Kunstwerk nicht vermeiden kann – als ob Schönheit in seinen Arbeiten nicht nur mit erbaulichen Harmonien zu tun habe, sondern hauptsächlich mit dem Chaos, mit dem das Leben verflochten ist. Kann man sagen, dass es einen Bezug gibt zwischen Kiefers Werk und der italienischen Mentalität?

GS: Italien ist ein vielschichtiges Land über das es zu viele Klischees gibt. Was aber ganz Italien gemein hat, ist ein Verständnis für Kultur und Schönheit. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verbindung mit der klassischen Kultur und auch ein Gefühl für Balance. Anselm Kiefer ist ein romantischer Künstler. Seine riesigen Bilder mit ihrem üppigen Farbauftrag, in dem mannigfaltige Objekte – Sonnenblumen, Diamanten oder Bleiklumpen – eingebettet sind, deuten in Richtung nordischer Mythologie, Kabbala und den ägyptischen Göttern, zu Philosophie und Lyrik, zu Alchemie und dem Geist der Materialien. Die Idee des Erhabenen könnte italienischen Ursprungs sein, ist aber auch sehr deutsch.

 

Kiefers lange Beziehung zu der Stadt Neapel begann 1982, als er eine Arbeit für die Sammlung Terra Motus schuf. 1992 begann die professionelle Zusammenarbeit mit Lia Rumma. 1997 wurden seine Arbeiten in einer Einzelausstellung im Sala degli Arazzi des Museo Nazionale in Capodimonte gezeigt. 2004 folgte eine Ausstellung im Museo Archeologico Nazionale in Neapel. Heute wird Kiefer in ganz Italien geschätzt. Aber was genau hat gerade diese Stadt, das Kiefer persönlich berührt?

GS: Einer der Gründe, warum seine Arbeiten vor allem in Neapel Anklang finden, ist sein Sinn für Größe und Pracht. Ein weiterer ist die Komplexität und Ambivalenz seiner Werke und Kiefers Fähigkeit, Gegensätze zu vereinen. Zudem steht seine Arbeit für eine unantastbare Schönheit, die zerstört werden könnte und letzten Endes auch zerstört wird. Eines seiner Hauptthemen ist die Zerbrechlichkeit.

Neapel, mit seinen noblen Palästen, ist ein Ort, an dem alles extrem ist. Mit jedem Schritt werden die Gegensätze offenbar: Ambition und Versagen, das Prachtvolle und sein Gegenteil. Die Stadt ist lebendig und widersprüchlich. In Neapel spürt man überall Größe und Erhabenheit, gleichzeitig erhält man einen Eindruck von Zerbrechlichkeit und Verfall. Neapel quält sich unter der Vorstellung, dass es zusammenbrechen oder einstürzen könnte. Es gibt eine Übereinstimmung zwischen all dem und Kiefers Sicht der Dinge. Neapel ist eine Stadt der Schichten – und die Überlagerung mehrerer Historien ist Markenzeichen von Kiefers Arbeit. Hinzu kommt die Art und Weise in der er seine Materialien Schicht für Schicht übereinander häuft um seine mächtigen Arbeiten zu erschaffen.

 

Gabi Scardi

Gabi Scardi ist Kunstkritikerin, Kuratorin und Autorin. Ihren Forschungsschwerpunkt bildet die Schnittstelle von bildender Kunst, Anthropologie, Architektur, Design und Urban Culture.

Seit 2011 ist sie Kuratorin des nctm e l’arte Projekts. 2015 kuratierte sie den griechischen Pavillon der 56. Biennale in Venedig und leitete die Restauration von Alberto Burris Teatro Continuo in Mailand. Scardi war als Berater für bildende Kunst der Behörde der Provinz Mailand sowie Kuratorin am MAXXI, dem Nationalmuseum der Kunst des XXI Jahrhunderts in Rom tätig.

Ausstellungen, die Scardi kuratierte oder mitkuratierte: Fashion as Social Energy, Palazzo Morando, Mailand (2015); The war which is coming is not the first one, Mart Museum, Rovereto (2014); Roma-Sinti-Kale-Manush, Autograph, London (2012); Spazio, MAXXI, Rom, 2010; Aware: Art Fashion Identity, Royal Academy, London (2010); Synthetic Ritual, Prichard Art Gallery, Idaho (2012) and Pitzer Gallery, Pitzer College, Los Angeles (2011); Side Effects, Louisiana Museum, Kopenhagen (2011) and Side Effects, Biennale de Lyon (2009); Maria Papadimitriou, Infinito fa rumore, eternità fa silenzio, Fotografia Europea, Reggio Emilia (2009); “Alfredo Jaar, It is Difficult”, Spazio Oberdan and HangarBicocca, Mailand (2008) und “Alfredo Jaar, Questions, Questions”, öffentliches Projekt, Mailand (2008).