Café Deutschland – kein Coffee Table Book
12. Februar 2019Café Deutschland ist ein außergewöhnliches Buch, schon das Format sprengt jeden Rahmen. Fast 2.000 Seiten liegen vor dem Leser, man fühlt sich mit einer Art Maßlosigkeit konfrontiert, die erst einmal mehr Lähmung als Interesse weckt.
Es ist ein Interviewband, herausgegeben von Franziska Leuthäußer im Auftrag des Städel Museums. Interviewt wird die „erste Kunstszene der BRD“, also Protagonisten geboren in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, heute alle um die achtzig (wenn noch am Leben). Gegenstand der Gespräche sind die Nachkriegsjahre und wie sich aus den Ruinen des zweiten Weltkriegs das entwickelte, was wir heute Nachkriegskunst nennen. Der zeitliche Bogen spannt sich bis zu den „Neuen Wilden“ der Mühlheimer Freiheit in Köln und der Galerie am Moritzplatz in Berlin.
Klingt das attraktiv? – ehrlich gesagt: eher nein. Der Rezensent, Jahrgang 1961, und in der Kunst eher dem Heute zugewandt, war dennoch eigenartig fasziniert von dem Unterfangen, auch wenn die Erwartungen sich im Rahmen hielten.
Die 74 Interviews beginnen alphabetisch bei Götz Adriani und enden bei Rudolf Zwirner. Jeder, der in dieser Zeit zu diesem Thema eine relevante Position hatte, kommt zu Wort. Künstler, Galeristen, Publizisten, Ausstellungsmacher, Intellektuelle, Multiplikatoren – alle! Und von Interview zu Interview spinnt einen dieses Buch stärker ein, in einen Kontext der eigentlich vergangen ist, aber hier eine fast physische Vitalität entfaltet. Der Leser findet sich in einem Kokon von Bezügen, Geschichten, Anekdoten, Persönlichem, Abstraktem wieder, und eine Authentizität entsteht, die fast unglaublich ist.
Beinah zwangsläufig beginnt man, sich zu amüsieren, wie ein und dasselbe Erlebnis von mehreren der Gesprächspartner völlig unterschiedlich dargestellt wird, sich Haltungen gegenüber anderen Interviewten diametral entgegengesetzt präsentieren, und Bewertungen z.B. von Ausstellungen oder ähnlichem stark differieren.
Letztlich kreisen viele Gespräche um die Heroen der deutschen Nachkriegskunst, die aber mehrheitlich auch heute noch den Diskurs bestimmen, also Richter, Lüpertz, Baselitz, Kiefer, Penck, und Polke.
Aber die Tatsache, dass nicht der Hype von heute, sondern der Beginn von damals Thema ist und die Binnenstruktur zwischen diesen damals eine andere war als sie heute ist, macht schon allein die Sache lesenswert. Auch weil, mit Ausnahme von Penck und Polke, fast alle der eben Genannten selbst zu Wort kommen. Es ist ein „zurück in die Zukunft-Buch“, weil gestern und heute verschmelzen, und man als Leser oft das Gefühl hat, selbst in den früheren 1960er-Jahren in Berlin, Köln oder München dabei zu sein. Ein außergewöhnliches, eigenartiges und sehr lesenswertes Buch.
Weitere Informationen zum Projekt Café Deutschland finden Sie hier.